Dieses Paradoxon sei erlaubt: das vorliegende Trioalbum ist eine wunderbare Trioeinspielung, weil sie ein so vielschichtiges, herrliches Duo-Musizieren dokumentiert. Peter Ehwald und Stefan Schultze, inzwischen Träger prominenter Musikpreise, kennen sich seit bald zwanzig Jahren, seit ihrer Zeit der Aufnahmeprüfung fürs Musikstudium. Vielfache gemeinsame Projekte haben sie miteinander realisiert, sind sich gegenseitig entscheidende Inspirationsquellen und Kritiker geworden. Den Schlagzeugstar der New Yorker Downtown Szene, Tom Rainey, bewundern beide schon seit langem. Letztes Jahr hat sich die Gelegenheit zu einer gemeinsamen Tour der drei ergeben, und an einem freien Tag in Berlin haben sie gemeinsam diese CD aufgenommen. Es gibt nicht viele Schlagzeuger, mit denen das Wunder vollendeter offener Triomusik derartig überzeugend gelingen kann wie mit dem fast 59-jährigen Amerikaner. Er ist ein begnadeter Klangrhythmiker und Klangmelodiker, ein Meister des subtile Strukturen generierenden Ex-tempore-Komponierens. Er ist Katalysator und doch gleichzeitig existenziell Beteiligter. In seinem Umfeld vollzieht sich offenes Triospiel immer wieder als intensives Duo-Musizieren mehrerer Beteiligter gleichzeitig; quasi analog zum chemischen Paradigma ringförmig wechselnder Valenzen interagiert jeweils duogemäß jeder mit jedem – und das mit einer fast asketisch konzentrierten Kultur des Zuhörens. Statt Powerplay-Einheitsbrei entstehen so abwechslungsreiche, beglückende Begegnungs-Miniaturen – vor allem dann, wenn sich die Beteiligten wie bei diesem Treffen auf eine Balance von auskomponierten und freien offenen Formen verständigen.
Zu dem Umgang mit dem Material bemerken Stefan und Peter: "Unsere Herangehensweisen auf dem Album sind sehr verschieden. Das was vorauskomponiert ist, ist oft sehr prägnant und bestimmend für die Ästhetik der einzelnen Tracks, trotzdem ist das Ziel, darüber zu stehen und so frei wie möglich damit umzugehen und Gedanken weiterzuspinnen. Es fühlt sich in der Besetzung eher so an, als ob man ständig, während man spielt, die Kompositionen erweitert, weiter komponiert und neue Gedanken hinzufügt. Es soll kein Bedienen einer vorgefertigten Idee sein."
Die Reihenfolge der Stücke wurde erst nach den Aufnahmen festgelegt. Dabei besticht das Programm mit strenger Stringenz. Tong-Gu entpuppt sich nach einer Reihe von eher offenen, freieren Stücken zu Beginn des Albums als Gravitationszentrum, bei dem die Betonung des Sprechgestus des Musizierakts eine immer größere Rolle spielt. Faszinierend ist dabei, dass alle drei Musiker mit Ehrfurcht gegenüber dem Klang des eigenen Instrumentes spielen und die so implizierte Respektgrenze selbst in Phasen des intensivsten bohrenden Suchens nicht überschreiten. Die Entstehungsgeschichte von Tong-Gu verweist unmittelbar auf das Sprachgestische. Stefan hat es geschrieben, als er auf einer einmonatigen Residenz des Goethe-Instituts in Shanghai war. Im Chinesischen hat ein Wort - anders ausgesprochen - oft eine andere Bedeutung. Ohne korrekte Betonung der Wörter kann man nicht verstanden werden. Die Komposition spielt mit dem Gedanken der Umdeutung, jedoch nicht im Bereich der Tonhöhe, sondern in dem der Rhythmik; so wird im Thema der Komposition jeder Takt immer wieder rhythmisch umgedeutet, und es entstehen neue Bedeutungen. Das Wort Tong-Gu, mit Bindestrich geschrieben, ist ein Fantasiewort. Tong bedeutet sich ähneln und sich gleichen, ist aber auch ein Synonym für ein Zusammenkunftsplatz und eine Geheimverbindung, die in den USA und in Kanada entstand. Gu ist der Gott des Eisens und des Krieges.
Der aufmerksame Zuhörer wird auch an anderen Stellen des Albums immer wieder überraschende Entdeckungen machen, etwa beim Eingangsstück Edgewise, das als Hommage an die Musik von Morton Feldman angelegt ist und Klangverwandtschaften und das nicht determinierte Eintreten von Ereignissen thematisiert. Entdeckungsabenteuer satt gibt es auch bei Lucky Number, der Glückszahl in der Mathematik, die in diesem Stück für Reihen und deren freie Bearbeitung steht; die einzelnen Motive, die etwas kantig und sperrig wirken, werden mehr oder weniger auf Zeichen gespielt, und die Musiker müssen sich dabei manchmal einfach auch auf ihr Glück verlassen.
Neben den Stücken mit klar umschriebener Konzeption gibt es spontan im Studio als Improvisationen entstandene Tracks. Das Titelstück Behind Her Eyes gehört dazu und unterstreicht in schöner Vielschichtigkeit den offenen Ansatz dieses Trios mit seinem großen Interpretationsfreiraum und dem Verzicht auf eng Festgezurrtes.
Letztlich muss die Musik für sich selber sprechen, wie Miles Davis immer betonte. In diesem Sinne ist Behind Her Eyes ein äußerst beredtes Album. Thomas Fitterling
1 Edgewise (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 3:41
2 Capucine (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 7:21
3 Lucky Number (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 5:57
4 Flood (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 4:40
5 Behind Her Eyes (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 2:42
6 Tong-Gu (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 8:26
7 Core (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 3:01
8 Silent Song (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 7:32
9 Whereabouts (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 3:06
10 Blatny (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 5:41
11 While You Sleep (feat. Stefan Schultze & Tom Rainey) 3:44
Stefan Schultze: piano
Tom Rainey: drums